- Weissagungen und Zukunftsvisionen
- Weissagungen und ZukunftsvisionenDie Unsicherheiten darüber, was die Zukunft bringen wird, führte in allen Kulturen und Epochen zu Praktiken, die den Schleier der Ungewissheit zerreißen sollten. Aus Angst vor der Zukunft wurden verschiedene Formen von Vorhersagen entwickelt, die von dunklen Andeutungen bis zu exakten Angaben reichen. Sie dienten den Menschen vor allem dazu, Entscheidungen zu fällen. Die Sehnsucht nach der heilen Welt und die Nöte über die Missstände der Gegenwart führten zu apokalyptischen Visionen, die das Ende der Welt beschworen.Das Orakel von DelphiIm Mittelmeerraum hatte von allen antiken Kultstätten Delphi am Südabhang des Parnass die größte Bedeutung. Es galt als Mittelpunkt des Weltalls, als der »Nabel der Erde« und war zunächst Gaia, der Erde und anderen chthonischen Gottheiten gewidmet. Im Übergang des Heiligtums an Apollon spiegelt sich der Sieg der Lichtreligion über die chthonischen Mächte. Auf der Grundlage von Orakelsprüchen wurde über persönliche Angelegenheiten ebenso wie über Krieg und Frieden entschieden. Viele Städte erbaten bei unvorsätzlicher Tötung Sühne in Delphi; sogar Orestes, der nach dem Muttermord unerbittlich von den Erinnyen gejagt wurde, wurde in Delphi entschuldet. Als Heiligtum einer Lichtgottheit mussten die finsteren Mächte, Rachegeister und Schicksalsgötter, gebannt werden. Dadurch vollzog sich eine erste Erziehung zur Menschlichkeit: In Delphi wurde eine Ethik des Maßes verkündet. Die Menschen müssen ihre eigenen Grenzen akzeptieren, um glücklich und in Frieden zu leben. Berühmt wurde die Inschrift des Apollon-Tempels: Gnothi seauton — erkenne dich selbst! Auch andere Mahnungen sind überliefert: »Bescheide dich«, »Bedenke das Sterbliche« oder »Das Maß ist das Beste«. Sokrates, die Hauptfigur der platonischen Dialoge, berief sich im Stil seines Philosophierens auf das Orakel von Delphi. Um dessen Aussage, er sei der Weiseste unter allen Menschen, zu prüfen, befragte Sokrates seine Mitbürger nach den Quellen ihres Wissens und musste feststellen, dass die meisten keine Rechenschaft darüber ablegen konnten. So wurde Sokrates »im Dienst des Gottes von Delphi«, wie er in seiner Verteidigungsrede vor den Athener Richtern sagte, zum Repräsentanten eines »wissenden Nichtwissens«. Abgesehen von Ratschlägen und Lebensweisheiten wurden auch Orakel erstellt, um die Zukunft vorherzusagen. Die Pythia, die Priesterin von Delphi, die auf einem dreibeinigen Schemel über einer Erdspalte saß, aus der Dämpfe emporquollen, stieß in einem Zustand der Ekstase, des Gottes voll und als Gefäß seines Willens, Laute aus; diese wurden von Priestern aufgefangen und gedeutet. Die Vorhersagen waren meistens mehrdeutig, sodass in der Regel das, was tatsächlich geschah, mit einer Aussage übereinstimmte. Bevor sich der Lyderkönig Kroisos für die entscheidende Schlacht am Halys gegen den Perserkönig Kyros II. entschied, befragte er das Orakel. Kroisos, so lautete die Anwort, werde ein großes Reich zerstören, wenn er den Fluss überschreite. Kroisos bezog den Spruch auf das Perserreich, überschritt den Fluss und wurde selbst vernichtend geschlagen. — Die Orakelsprüche wiederum konnten sich nur bewahrheiten, wenn derjenige, der sie erbat, dabei mitwirkte. Er war gezwungen, sich für eine Bedeutung zu entscheiden — ohne zu wissen, welche sich bewahrheiten wird. Letztendlich wurde die Ungewissheit über die Zukunft also gerade nicht aufgehoben.Von den Sternen lernen: AstrologieMit der Entsprechung zwischen dem Bild der Planetenkonstellation und dem Wesen eines Menschen befasst sich die Astrologie. Sie beruht auf der Auswertung vieler Einzelerfahrungen und lässt sich nach der Auffassung von Astrologen nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden überprüfen.Astrologische Vorstellungen finden sich in der griechischen Naturphilosophie ebenso wie im Alten und Neuen Testament, vor allem in den apokalyptischen Büchern. Für Paulus gehören die Planeten- und Tierkreiszeichen zu den »Elementarmächten der Welt« und nur durch Christus werden die Menschen aus ihrer Herrschaft befreit. Eine große Blüte erlebte die Astrologie während der Renaissance. Noch Johannes Kepler war überzeugt, dass der Charakter eines Menschen eine »Abbildung der gesamten Konstellation am Himmel« ist; sie bildet sich in der Seele ab und verdichtet sich im Augenblick der Geburt zur Charakterdisposition. Bis heute ist die Astrologie geozentrisch, sie befasst sich mit dem Sternenhimmel, wie er vom Menschen auf der Erde erlebt wird. Der Mensch selbst erscheint als Mikrokosmos, als ein kleines Spiegelbild des ganzen Alls.Die »Astrologia judiciaria«, die das Schicksal der Menschen vorausberechnen will, ist von der Form der Astrologie zu unterscheiden, die in der Planetenkonstellation nur einen Spiegel der Anlagen sieht. Die Sterne, so sagten die mittelalterlichen Astrologen, geben zwar die Richtung an — aber sie zwingen nicht. Die Astrologie negiert daher nicht den Spielraum menschlicher Freiheit, sondern will ihn sogar vergrößern, indem sie zu einer besseren Selbsterkenntnis verhilft. Im 20. Jahrhundert gab Carl Gutav Jung den entscheidenden Impuls für eine moderne Deutung der Astrologie. Er sah in mythischen Gestalten archetypische Strukturen des kollektiven Unbewussten, die in allen Menschen wirksam sind. Die Planeten tragen nicht bloß zufällig mythische Namen; sie gelten als Spiegelbilder seelischer Potenzen. Geprägt durch die Stellung im Tierkreis und die von der Tageszeit abhängige Position in den Häusern bilden sie eine Art Kosmogramm der Seele. In der Lebensberatung wird daher das Horoskop als Meditationsbild benutzt.Vom Ende der Zeiten: WeltuntergangstheorienDie Lebensbedingungen, so die Botschaft von Apokalypsen, verschlechtern sich immer mehr, bis schließlich am Ende der Zeiten eine Katastrophe hereinbricht. Es kommt zu einem Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen, der den ganzen Kosmos in Aufruhr versetzt: Erdbeben, Überflutungen und die Verfinsterung der Sterne kündigen das Ende der Weltzeit an. Mit dem Weltuntergang endet die Kontinuität der Zeit. Danach beginnt eine Heilszeit, in der die uranfänglichen paradiesischen Zustände wieder hergestellt sind. Apokalyptische Visionen finden sich in zahlreichen Religionen, bei den Parsen, in der indischen Religion, der Stoa, im Islam, Judentum und Christentum. Das Wissen über die endzeitlichen Ereignisse wird ausgewählten Menschen von göttlichen Mittlergestalten in Träumen, Auditionen und Visionen offenbart.Im Alten Testament begegnet man der Apokalyptik nur im zweiten Teil des Danielbuchs. In ihrem Zentrum steht ein eschatologisches Motiv: Wann, so lautet die Frage, wird das ersehnte Ende der Geschichte eintreten, das die ewige Herrschaft Gottes einleitet. Vor dem Weltuntergang nimmt die Gottheit — zumindest für eine begrenzte Zeit — keinen Einfluss auf den Gang der Geschichte, so-dass sich das Böse ungehemmt ausbreiten kann. Die Erinnerung an das drohende Weltende soll die Zeitgenossen dazu bringen, von unmoralischen Handlungen abzulassen und in Übereinstimmung mit der göttlichen Offenbarung zu leben. — Die christliche Apokalyptik beginnt mit der Offenbarung des Johannes, die etwa 95 n. Chr. auf Patmos geschrieben wurde. Himmlische und irdische Verhältnisse werden in einer symbolreichen Sprache offenbart: Gott erscheint als Herrscher auf dem himmlischen Thron, Christus als Lamm, der Drache als Sinnbild des Satans. Die Stadt Rom gilt wegen der Zerstörung Jerusalems als ein neues Babylon. Nach einer Zerstörung von kosmischem Ausmaß werden ein neuer Himmel und eine neue Erde geschaffen und die Anhänger Christi ewig leben.Gnosis, so definierte Clemens Alexandrinus, bedeute die »Erkenntnis, wer wir sind und was wir geworden sind; woher wir stammen und wohin wir geraten; wohin wir eilen und wovon wir erlöst sind; was es mit unserer Geburt, was es mit unserer Wiedergeburt auf sich hat.« Durch ein übersinnliches Erkenntnisorgan, die Augen der Seele, erschließt sich den Menschen die Welt des Geists, zu der kosmische Kräfte ebenso wie Dämonen, Geister und Engel gehören. Während die Neuplatoniker, allen voran Plotin und die christlichen Denker, eine dualistische Interpretation der Welt heftig bekämpften, gingen die Gnostiker davon aus, dass der Kosmos von zwei gegeneinander kämpfenden Kräften beherrscht werde. Die irdische Welt wird zum Reich der Finsternis, dem radikal Bösen — die himmlische Welt dagegen ist von den Kräften des Lichts regiert. Die Erlösung der Menschen aus der Abhängigkeit von den Dämonen, die sie quälen und zu unmoralischen Taten verführen, kann nur durch einen Eingriff Gottes in den Kosmos erfolgen. Stufenweise müssen die Menschen alle materiellen Hüllen ablegen und zum reinen Geist aufsteigen, um dem Kreis der Schöpfung zu entfliehen. Der Weg in die Zukunft ist in gewisser Weise eine Rückkehr zum Uranfang: Er führt in einer Kreisbewegung von der geistigen Welt zur Materie und von dort durch die Erlösung wieder zurück zum göttlichen Geist.Visionen der Zukunft: NostradamusNostradamus (1503 bis 1566) lebte in einer Zeit, in der sich das mittelalterliche Weltbild bereits weitgehend aufgelöst hatte und die Pest, die Glaubensspaltung und die Bauernkriege Mitteleuropa verwüsteten. Er studierte Medizin, eine Disziplin, die gerade damit begonnen hatte, sich durch hygienische Maßnahmen und anatomische Studien an Leichen eine wissenschaftliche Grundlage zu erschließen. Als Arzt und Astrologe wanderte Nostradamus durch Südfrankreich, floh vor der Inquisition und ließ sich 1547 in Salon-de-Provence nieder. Ab 1555 erschienen seine »Prophezeiungen«. Sie sind in einer Geheimsprache geschrieben, einer Mischung aus neu gebildeten griechisch-lateinischen Wörtern und provençalischer Diktion, durchsetzt mit den Namen von Städten und astrologischen Angaben. Er wage es nicht, so sagte Nostradamus, die Wahrheit offen auszusprechen.Vor den Augen des Lesers entsteht eine Welt aus Verrat, Mord, Kampf und Katastrophen. Kulturhistorisch erscheinen die Prophezeiungen als Spiegel einer von Glaubenskriegen zerrissenen Zeit. Doch bis heute sieht man in den Texten von Nostradamus auch visionäre Ankündigungen und versucht, die Sprache zu entschlüsseln. So bezog man etwa die Prophezeiungen, die angeblich vom Jahr 1999 handeln, in südosteuropäischen Ländern wie Rumänien auf den Kosovokrieg. In etlichen Zeitungen konnte man lesen, dass Nostradamus damit den Beginn des Dritten Weltkriegs vorausgesagt habe. Der Bericht erzeugte eine eigenartige Gefühlsmischung: Selbstzufriedenheit, weil man zu den Wissenden gehörte, Angst vor militärischen Interventionen, Aggression gegen diejenigen, die Serbien den Krieg erklärt hatten und Fatalismus angesichts des unausweichlichen Gangs der Dinge.Priv.-Doz. Dr. Regine KatherKlassiker der modernen Zeitphilosophie, herausgegeben von Walther C. Zimmerli u. a. Darmstadt 1993.Die Wiederentdeckung der Zeit. Reflexionen — Analysen — Konzepte, herausgegeben von Antje Gimmler u. a. Darmstadt 1997.
Universal-Lexikon. 2012.